Die Tränen des Kamels

Bezeichnung Wert
Titel
Die Tränen des Kamels
Camel in the sun
Verfasserangabe
Griffin Ondaatje. Mit Bildern von Linda Wolfsgruber. Aus dem kanad. Engl. von Uwe-Michael Gutzschhahn
Medienart
Person
Verlag
Ort
München
Jahr
Umfang
[21] Bl. : überw. Ill. (farb.)
ISBN10
3-7607-6299-9
ISBN13
978-3-7607-6299-9
Annotation
Was für ein internationales Buch! Eine arabisch-muslimische Geschichte, geschrieben von einem englischsprachigen Kanadier, übersetzt von einem Deutschen und illustriert von einer Südtirolerin, einer deutschsprachigen Italienerin also. So funktioniert Globalisierung! Eigentlich gehört hier sogar noch hin, dass das Buch in Malaysia gedruckt wird... Die Geschichte ist in ihrer Grundgestalt nicht neu, sie findet sich, der Autor erzählt es selbst, in den sog. Hadithen, traditionell überlieferten Erzählungen aus dem Leben des Propheten Mohammed. Sie wird hier nicht übersetzt oder möglichst originalgetreu nacherzählt, Ondaatje hat sie nach der Inspiration des Originals neu geschaffen und dabei seine eigenen Akzente gesetzt. Es geht um ein Kamel, das seinem Herrn, einem reisenden Händler, viele Jahre schon treu und genügsam schwere Lasten getragen und die heiße und öde Welt der arabischen Wüsten durchlitten hat. Halim, der Händler, nimmt dabei keine Rücksicht auf die Bedürfnisse seines Lasttieres, ihm ist sein Reise-tempo, seine Bequemlichkeit im Sattel auf dem Warenberg und der erfrischende Schatten seiner Rasten in Oasen und Ortschaften wichtig. Das Kamel bleibt dabei beladen in der prallen Sonne angepflockt. Nach vielen gleichförmigen Jahren wird dem Kamel wohl der absehbar unveränderlich schwere Lebensweg deutlich, Trauer erfüllt sein Herz und es vergießt Tränen der Verzweiflung. Halim interessiert auch das nicht. Bis eines Tages die Reise sie nach Medina führt, der Stadt des Propheten. Und während Halim im Schatten schläft, bemerkt Mohammed das traurige Kamel, tröstet es und lässt Halim im Traum die gleiche Verzweiflung nachempfinden. Wird er sich ändern? Wortreich und verschlungen entwickelt sich die Handlung, ähnlich den Vortragskünsten arabischer Geschichtenerzähler, die allein mit Worten Farbe und Gefühl in ihre Vorträge einfließen lassen. Schon aus dem Text spürt man die Hitze, den Durst, die Verzweiflung des Kamels. Ebenso aber auch die selbstsüchtige Behäbigkeit Halims, seine egoistische Bequemlichkeit. Und obwohl er weder in Wort noch Bild genauer geschildert wird, steht als demonstrativer Gegenpol der Prophet da, einfühlsam, verständnisvoll, aber auch mit Autorität. So kurz die Geschichte letzten Endes ist, so kunstvoll ist sie angelegt - und nimmt die Färbung des Orients an, ergibt sich willig der fremdartigen Stimmung. Dazu kommt die ebenfalls kunstvolle Illustration, auch sie auf den ersten Blick fremdländisch und ungewohnt, dann aber umso eindrucks- und ausdrucksvoller. Schon die farbliche Grundstimmung gemahnt an sonnenverbrannte Länder: Viel staubiges Gelb, Braun und Grau, stumpfe Farben, schmutzige Töne, selbst in einer Nachtszene eher verwaschenes, sandiges Blaugrau. Nur schemenhaft sind Menschen, Tiere und Gebäude als Silhouetten auszumachen, verlieren sich fast in den wüsten Weiten, lassen Anstrengung und Müdigkeit nachfühlbar werden. Nur wenn die Szenerie zur Stadt oder Oase wird, konturiert sich alles schärfer, aber auf eine irritierende Weise: Nun werden den flächigen Grundformen rote, blaue und grüne "Ziselierungen" auf-gesetzt, wie mit Kugelschreiber gekritzelte Details, die im ersten Moment fast störend wirken. Doch sie erlauben eine differenziertere Darstellung, einen genaueren Blick auf Feinheiten, wie auch wir ihn uns gestatten sollten. Denn so wird erst sichtbar, was wir mit dem Propheten gemeinsam entdecken sollen: Das Leid der Kreatur, die Existenz fühlender Wesen außerhalb unserer eigenen Spezies. Und siehe da: Das Kamel erscheint auf einmal "lebendiger", beinahe "menschlicher" als die Menschen drumherum. Auch bildlich entschlüsselt sich die Botschaft der Geschichte also greifbar. Und noch etwas verblüfft: Selbst das, was gar nicht zu sehen ist, kann man spüren. Denn die Autoren haben, ganz in islamischer Tradition, auf jede bildliche Darstellung Mohammeds verzichtet. Und dennoch ist er da, nicht sichtbar, aber fühlbar für den, der sich auf die Atmosphäre von Text und Bildern einlässt. Ein wundervolles Buch, reduziert in seiner Optik, dabei aber voller Sinn, voller Gefühl. Ondaatje spricht in seinem Nachwort davon, dass wir vielleicht alle so ein vernachlässigtes "Kamel" in uns tragen, dem wir mit erneuerter Aufmerksamkeit begegnen und uns seine Bedürfnisse zu eigen machen sollten. Dieses Buch hilft uns bei der Suche.
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