Felsenfest [6]

Bezeichnung Wert
Titel
Felsenfest [6]
Untertitel
Alpenkrimi
Verfasserangabe
Jörg Maurer
Medienart
Person
Reihe
Reihenvermerk
6
Verlag
Ort
Frankfurt/M.
Jahr
Umfang
431 S.
ISBN10
3-651-00063-X
ISBN13
978-3-651-00063-6
Annotation
Es ist der erste Krimi, den ich von Jörg Maurer lese. Und es dauert eine Zeitlang, bis ich mich zurechtgefunden habe. Was lese ich da eigentlich? Die Bezeichnung "Alpenkrimi" hat mich einen der typischen, halbwegs amüsanten Heimat- und Regionalkrimis erwarten lassen. Aber das, was ich hier lese, ähnelt nichts von alledem. Zunächst braucht es eine Zeit, bis ich die unendlich vielen Figuren einigermaßen verknüpfen kann. (Da haben es die Leser seiner bereits erschienenen Romane einfacher, wie ich schnell herausgefunden habe, denn zumindest das Ermittlungsteam ist das gleiche.) Aber nicht nur das verwirrt. Kaum wähne ich mich in einem lustigen Krimi, der mich laut lachen lässt, da wird er zur Satire und ringt mir deutlich Anerkennung für die Darstellung ab, um wenig später so boshaft zu werden, dass ich tief durchatmen muss, und bald zu einer Slapstick Komödie, dass ich mich in einem Film wähne mit rascher Abfolge von Szenen. In jedem Fall ist es ganz außergewöhnlicher Krimi, manchmal humorvoll, oft finster, sarkastisch, böse, scharfzüngig, entlarvend, niederträchtig - und doch nie verletzend oder beleidigend. Jörg Maurer ist ein scharfer Beobachter seiner Mitmenschen, und die "schlimmsten" Seiten hat er in diesem Roman verewigt. Und Personen genug, um das alles zu bieten, gibt es ja. Es ist ein ganz besonderer Fall, denn der Kommissar Jennerwein kennt alle Beteiligten persönlich. Klassentreffen ist angesagt, vor dem er sich wieder einmal gedrückt hat. Hoch auf einen Gipfel soll es gehen über dem alpenländischen Kurort, um dort eine tolle Zeit miteinander zu verbringen. Und was passiert? Jennerwein erhält eine SMS: hu!239b.gu. Blödsinn, denkt Jennerwein; vielleicht hat sich jemand vertippt. Und doch lässt ihm die merkwürdige Botschaft keine Ruhe. Je länger er widerwillig darüber nachdenkt, desto mehr Bedeutung nimmt sie an, und irgendwann dämmert es ihm: 239b - das ist ein Gesetzesparagraph. Geiselnahme! Und damit geht es richtig los für Jennewein, während der Leser schon längst weiß, was passiert ist. Ein Geiselnehmer hat die ganze alte Klasse in seine Gewalt gebracht, ihnen Gesichtsmasken aufgezwungen und jeden an einen im Berg fest verankerten Ring gekettet. Irgendeine Information will er erpressen von einem von ihnen, scheut nicht vor brutaler Gewalt zurück, und bald ist in der Tat ein Todesfall zu beklagen, als einer von ihnen in die Tiefe stürzt. Verzweiflung, Schockstarre, Versuche, den Geiselnehmer zu überlisten - Jörg Maurer zieht alle Register. Und wenn es vielleicht auch an die 100 Seiten dauert, bis man die Struktur des Romans begriffen hat, so hört man spätestens ab Seite 50 nicht mehr auf zu lesen. Dabei ging es mir gar nicht mal darum, wer denn letzten Endes der Täter war, auch wenn das spannend und höchst intelligent gelöst wird und rüberkommt. Es ist die gesamte Anlage des Romans mit seinen vielfältigen Formen und stetigen Perspektivenwechsel, rückwirkend die immer wieder eingeschobenen Briefe der Klassenkameraden als Reaktion auf die Einladung zum Klassentreffen, Szenen aus dem Leben des einen oder der anderen von ihnen, die lange Zeit ohne jeden Bezug zur Handlung bleiben, an die man sich vielleicht erst 150 Seiten später erinnert, oder die ihren Sinn dann entfalten, wenn der Leser wieder etwas von dem "Bösewicht" und seinen Absichten, die ebenfalls lange im Dunkeln bleiben, gelesen hat. Ja, und dann kommt natürlich die ganze bayrische Mentalität so wundervoll zum Ausdruck, dass es einem (die Rezensentin stammt wenn schon nicht aus Bayern, so doch aus Franken) ganz warm ums Herz wird. Aber der Leser muss sich auf anspruchsvollen Stil einstellen. "Für den Gemüsemann am Marktstand war es heute an der Zeit zu granteln. Es war so ein Tag. Er hatte keinen Grund dazu, das Wetter war schön, der Himmel blitzblau, die Geschäfte an diesem Markttag liefen hervorragend, der Blumenkohl lag prall und rösch im Korb, er hatte keine komplizierten Kunden gehabt, keine Taschendiebe, Mundräuber, Wechselgeldwoller oder Pastinakenkritiker. Trotzdem schnauzte er den Mann, der sich über den Blumenkohl beugte, heftig an." Und er muss Geduld mitbringen, denn um die eigentliche Krimihandlung ranken sich ganz viele Überlegungen, Äußerungen, "philosophische" Feststellungen, die Jörg Maurer auch hier wieder als scharfsichtigen Beobachter ausweisen und die man genießen sollte. "Der Bayer braucht für seinen Fünfseenblues solche profanen Gründe nicht. Er beherrscht die Kunst zu klagen, ohne zu leiden. Zum föhn-gestützten Alpin-Grant hat er nicht einmal ein Instrument nötig. Er grantelt sozusagen freihändig und auswendig. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die ostwestfälische Schwermut und Nachdenklichkeit bemüht. Oder die russische Seele, die man angeblich aus den Liedern der Wolgaschiffer heraushören soll. Oder die französische Tristesse, die es bei Sartre und Camus sogar zu philosophischem Ansehen gebracht hat. All das kann niemals an die spontane Gefühlsregung eines alpenländischen Grantlers herankommen." Es gibt nur ein mögliches Urteil für diesen Roman: schlichtweg genial! Und nun muss ich mir schnell die anderen Bände von Jörg Maurer besorgen...