Stadtbücherei Voitsberg (Bibliothek - Infothek)

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Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund

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Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund
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Ein Autor, der noch zu entdecken ist Mike Markarts Roman "Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund" Seit 2008 kürt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels den kurioseste Buchtitel des Jahres, Mike Markarts neuer Roman Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund könnte da gute Chancen haben. Wäre es ein Debüt, würde ihm wohl eine gehörige Aufmerksamkeit zuteil. AutorInnen aber, deren Namen seit vielen Jahren präsent sind, ohne dass die Kritik ihr Werk umfassender wahrnimmt, haben aktuell das größte Aufmerksamkeitsdefizit zu erleiden. Dazu tragen oft auch prekäre Verlagswege bei mit wechselnden Kurzzeitbindungen - im Fall Markarts waren das im Lauf der Jahre Gangan, Grasl, Edition Kürbis und Braumüller, bis er 2012 bei der Grazer Edition Keiper landete. Markart, Jahrgang 1961, veröffentlicht seit 1991 kontinuierlich Bücher, die, so will es scheinen, zunehmend feinsinniger werden, damit freilich auch leiser. Und er lebt in Stainz, das ist weit von Wien. Aus allen diesen Zutaten entsteht ein Mix, der dafür sorgt, dass die Maschinerie des Betriebs seit langem mit - primär lokalem - Wohlwollen an diesem Autor vorbeigeht. Natürlich streift auch ihn das Förder- und Preiswesen, aber die Rezeptionsschuld der Kritik wird mit jedem neuen Buch größer. Über den verlorenen Posten, auf den schreibende Autoren ohne Talent zur Eigen-PR leicht geraten, heißt es in Markarts neuem Roman: "In letzter Zeit haben à alle vorgegeben, auf unvernünftig hohe Berge zu steigen, nur um einen aufregenden Plot zustande zu bringen. Schreiben ist einfach. Denn lügen kann jeder." Auch wenn es etwas eigenwillig scheint, dass der Verlag den neuen Roman zusammen mit Calcata (2009) und Der dunkle Bellaviri (2013) als "seltsame autobiografische Trilogie" bezeichnet - manche Bild-Vorstellungen sind einem aus den vorangegangenen Büchern vertraut. Allen voran die Spezifik von Markarts Italien-Streunereien, die mit ihrem genauen, mitunter ins Groteske kippenden Blick für das Befinden eines Gemeinwesens und die Anmutung einer (Stadt-)Landschaft an Peter Handke erinnern. Was er sein "ganzes Leben" geübt habe, so Markarts Erzähler, sei, "sofort Ausschau zu halten nach einer Bar", in südlichen Ländern einst der Auftrittsort der Jukebox und stets "das Lesebuch, die Chronik eines Ortes, in dem jeder und alles eingetragen sind". Markarts Erzähler-Ich ist gerade dabei, sich selbst und den Bezug zur Welt final zu verlieren. Dieses Ich ist so disparat wie die 71 Abschnitte, die von innen und außen, von einst und jetzt, von realer Welt und entgleisender Wahrnehmung erzählen und ein stimmiges Ganzes ergeben. Auf dem Weg zum Passamt fiel dem Erzähler vor einigen Jahren plötzlich ein, dass er "nicht mehr weiß, wie meine Unterschrift geht", und er kehrte unverrichteter Dinge nach Hause zurück; vielleicht hat er damals begonnen, sich in seinem immer perfekter abgeschotteten eigenen Weltgebäude einzurichten und seine Protokolle der Isolation niederzuschreiben. Auf dem Schreibtisch seiner langjährigen Lebensgefährtin Marina findet der Erzähler ein handgeschriebenes Buch mit Erzählungen, eine davon überschreibt mit dem Titel "Als ich das Osterfeuer holen ging" gleichsam den steirischen Rosegger-Mythos. "Früher war es üblich, Kinder zu beauftragen, dies und das zu holen, zu erledigen", heißt es darin, "heute geht das natürlich nicht mehr. In dieser exotischen Zeit jedoch spielt meine Geschichteà Es kann allerdings sein, dass meine Erinnerung davon, dass sie so lange zurückzuschauen hat, Irrtümern und auch Ungenauigkeiten gegenüber nicht ganz immun ist." Die groteske Aufgabenstellung für den kleinen Jungen der Erzählung lautet: Am Ostersamstag muss er zuerst einige Stunden in die Ortschaft absteigen, um für die Mutter, eine leidenschaftliche Kunstköchin, eine unendlich lange Liste mit den exotischsten Zutaten zu besorgen, und dann mit prall gefülltem Rücksack und schwerer Tasche in der einen, einer Laterne in der anderen Hand den Berg besteigen, um das Osterfeuer zu holen. Nur das Feuer am Berg riecht so, wie der Vater sich vorstellt, dass ein Osterfeuer zu riechen habe, deshalb getraut sich der Sohn trotz abruptem Schlechtwettereinbruchs nicht, die Bergbesteigung mit einer kleinen Schummelei zu vermeiden. Diese Geschichte irritiert den Erzähler, auch weil er als Verfasser einen gewissen Ludwig vermutet - es ist "der schreckliche Ludwig" aus seiner Schulzeit, der nun als potentieller Liebhaber Marinas wieder aufgetaucht ist. So wie andere unerklärliche Dinge auftauchen, eine kleine Frau unterm Buchregal, der Schatten eines Baumes an der Wand, der von nirgendwo herkommt, weil es keinen Baum gibt und der, weil unabhängig vom Sonnenstand, immer unverändert bleibt. Dafür kann dieser Baumschatten ohne Baum Unwetter ins Zimmer bringen, strömende Regenfälle, die er mit ausgebreiteten Handtüchern bekämpft, um dann ein altes Schlauchboot bereitzustellen für weitere Notfälle. Eines Tages wundert er sich, dass sich sein Nachbar einen so alten Hund zugelegt hat. Hat er wohl gar nicht, Herr und Hund sind sicher gemeinsam gealtert, nur der Blick des Erzählers hat sich verschoben und Bilder früherer Begegnungen ausgelöscht. Aus dieser Episode erwächst das Titelbild: Der Brief, den sich der Erzähler hält wie der Nachbar seinen Hund, ist ein Abschiedsbrief an Marina. Tagelang liegt er am Küchenschrank, dann steckt er in der Manteltasche, einen Briefkasten wird er nie von innen sehen, obwohl der Erzähler eines Morgens in den Nachbarort aufbricht, um ihn dort einzuwerfen, schließlich kann man nicht vorsichtig genug sein, seit sich "die Situation der Bahnhöfe à wie die Situation der Briefkästen und Postämter in den letzten Jahren" dramatisch verändert hat. Damit der Brief seine Adressatin trotzdem nicht erreicht, wird im Gedankenkosmos des Erzählers schweres Geschütz aufgefahren. Bewaffnete Verbrecher entführen den Zug quer durch den Kontinent irgendwo ins Eurasische hin, wo bestimmt kein Postkasten zu finden ist. Auch wenn die Szene am Ende mit einem "Die Situation wenden wie eine Jacke" zurückkippt in den Alltag mit schemenhaft erinnerten Besorgungen, die anstehen: Der verhängnisvolle Brief scheint in Sicherheit, auch weil der Erzähler zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit lang interniert zu sein scheint. Es sind nicht "verschiedene Stimmen", die hier sprechen, wie es in einer der raren Rezensionen hieß, es ist ein Ich, das in seiner immer eigenwilligeren Kopfwelt verschwindet und ins Unerreichbare abdriftet. Das erfahren wir durch einige kurze Abschnitte, in denen Marina die beunruhigende Veränderung ihres Lebensgefährten beschreibt. Sie erklären einiges, aber nicht zu viel, denn nicht nur der Erzähler, auch sein Autor ist "kein Wörterverschwender", was seinen Beschreibungen große Kraft und eine ganz eigene Poesie verleiht - nicht nur, aber immer wieder in den Miniaturen von Reiseaben­teuern. "Die Sonne stieß die Tür zur Nacht auf und trat ein. Zog die Tür hinter sich zu. Die leichte Brise, die über die zarten Hügel ging, hatte Gewürze geladenà Trotz großer Fracht erzählte die Abendluft von Leichtigkeit. Von einfachen Dingen. Sie flanierte im dichten, an vielen Stellen unbegehbaren Geflecht der Macchia." Und immer wieder bringt Markart mit sanfter Hand selbstgerechte Gewissheiten ins Wanken und antwortet dem Zweifel, dass es in dieser Welt, so wie sie ist, vernünftig zugehe, mit dem widerständigen Credo aller Poesie: Gegen das Wunderbare aber "wird man niemals immun".
EAN
9783902901484